Netz-Etiquette, besser bekannt unter dem schönen Kofferwort „Netiquette“, ist ein Thema, das seit längerem Netzgemeinschaft, Justiz und Seitenbetreiber gleichermaßen in Atem hält. Falls die Meteorologen mal wieder völlig falsch liegen mit ihren Vorhersagen – ist doch eines sicher: Ein Shitstorm wird ganz bestimmt irgendwo in Netz-Deutschland wüten. Doch wie begegnet man vermeintlich diffamierenden Kommentaren im World Wide Web? Einleitend dazu folgende Geschichte:
Der Fall liegt schon etliche Jahre zurück, ist aber nach wie vor top-aktuell: 2008 entbrannte in Estland eine Diskussion im Netz über die Verbindung des Festlands mit einer abgelegenen Insel: Um die Insel per Fähre zu erreichen, wurden Eisbrecher eingesetzt. Dies behinderte jedoch die Anlegung neuer Autostrecken über das Eis. Im Verlauf der hitzigen Diskussion sah sich der Fährbetreiber zusehends mit beleidigenden Nutzerkommentaren konfrontiert und verklagte daraufhin den Forenbetreiber. Mit Erfolg – 2008 musste der Betreiber der Seite 320 Euro Strafe an den Fährunternehmer zahlen. In letzter Instanz prüfte nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Urteil und bestätigte es. Die Begründung: Der Seitenbetreiber hätte zulange mit der Löschung fragwürdiger Kommentare gewartet und sei für den Inhalt der Website verantwortlich. Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen für alle 47 Länder des Europarates. Dazu zählen nicht nur die EU-Länder, sondern auch die Schweiz, die Türkei sowie Russland und die Ukraine.
Nichtsdestotrotz ist das aber noch lange kein Freifahrtschein für Beleidigungen aller Art im Internet. In Deutschland kann die Polizei beispielsweise bei Verleumdungen und Beleidigungen die IP der unflätigen Nutzer beim Seitenbetreiber in Erfahrung bringen. Grundsätzlich gilt in der digitalen Welt gleiches Recht wie in der analogen: Wer nach §185 STGB beleidigt, nach §186 STGB üble Nachrede betreibt oder gar nach §187 STGB Personen bewusst verleumdet, muss mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Alle Beleidigungsdelikte können theoretisch mit Freiheitsstrafen von einem Jahr (Beleidigung), bis zu fünf Jahren (Verleumdung) geahndet werden. Im Regelfall werden jedoch nur Geldstrafen verhängt.
Wenn ein Webseitenbetreiber auf rechtsverletzende Äußerungen aufmerksam gemacht wird, ist er verpflichtet, nach den Grundsätzen der sogenannten Störerhaftung zu handeln und dementsprechend gemeldete Kommentare nach eingehender Prüfung ggf. zu löschen. Kommt er diesen Beanstandungen nicht innerhalb einer angemessenen Frist nach, drohen Unterlassungsansprüche und Abmahnungen. Was eine angemessene Frist ist, wird im Gesetz allerdings nicht eindeutig definiert.
Auf der anderen Seite ist der Seitenbetreiber aber ebenso dazu verpflichtet, die anonyme Nutzung oder die Verwendung von Pseudonymen zu ermöglichen, sofern diese technisch möglich ist (Telemediengesetz 2007). Damit soll die Meinungs – und Redefreiheit (§5 Grundgesetz) garantiert werden. Laut eben jenem Telemediengesetz, ist es dem Seitenbetreiber außerdem nicht erlaubt, Nutzerdaten der Angreifer an Opfer von Beleidigungen herauszugeben. Die Möglichkeiten der Opfer beschränken sich auf eine Unterlassungsklage gegen den Seitenbetreiber oder eine direkte Strafanzeige gegen den Verfasser der beleidigenden Bemerkungen. Stellt die Staatsanwaltschaft fest, dass es sich um eine Straftat handelt, so kann mit aller Konsequenz gegen den Urheber ermittelt werden. Dies beinhaltet sogar Hausdurchsuchungen bei vermeintlich Unbeteiligten, die Informationen über die Identität des Täters haben. Es sollte sich also niemand allzu sicher hinter seinem Pseudonym fühlen. Jeder User hinterlässt Spuren im Netz, die anhand der individuellen IP Rückschlüsse auf seine Person zulassen.
Bedenkt man allerdings, wie viele Kommentare täglich im Netz ihren Weg unter die Gürtellinie finden, so wäre unser Justizsystem vermutlich hoffnungslos überfordert, müsste es jeden Web-Querulanten rechtlich verfolgen. Doch ist es auf der anderen Seite den Webseitenbetreibern zuzumuten, jeden einzelnen User an die Leine zu legen und gegebenenfalls sein Fehlverhalten zu sanktionieren? Wann ist eine Beleidigung eine Beleidigung? Die Grenze zwischen Beleidigung und vermeintlicher Zensur bzw. Verletzung der Meinungsfreiheit durch den Seitenbetreiber bleibt nach wie vor schwammig. Präzedenzurteile gegen einzelne User oder Seitenbetreiber können aber keine Lösung sein. Es muss erst noch ein sinnvoller Konsens gefunden werden.
Vielleicht lohnt sich hier ein Blick nach Amerika, wo die sogenannte Three Strike Rule eingesetzt wird. Sie besagt, dass nach zwei kleineren Vergehen beim dritten Fehltritt eine härtere Strafe folgt. Die Regel kommt aus dem Baseball, wo der Schlagmann nach dem dritten Fehlschlag („strike“) ausscheidet und an der darauffolgenden Spielrunde nicht teilnehmen darf. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn Seitenbetreiber zunächst bei Verfehlungen den User zweimal verwarnen. Sollte diese Maßnahme nicht fruchten, wird der User vorübergehend gesperrt. Dies würde den Justizapparat weniger stark belasten und schwarze Internet-Schafe in ihrem Verhalten sanktionieren. Inwiefern dieser Ansatz realisierbar ist und eventuell zu neuen Problemen hinsichtlich einer Überregulierung von Nutzerkommentaren führen würde, ist schwer vorherzusagen. In einem Punkt herrscht zumindest Einigkeit: Der Status Quo kann auf Dauer nicht die Lösung des Problems sein.
Foto: Silvan Streuli